Kann Fahrerflucht auch fahrlässig begangen werden?
Als Anwalt erreichte mich von Herrn D. folgende Frage: „Ein Mann behauptet, dass ich ihn
auf dem Parkplatz eines Supermarktes angefahren und leicht verletzt habe, als ich mit mei-
nem SUV ausparkierte. Ich habe davon allerdings überhaupt nichts gemerkt und bin ganz
normal weitergefahren. Nun wurde ich von der Staatsanwaltschaft mit Strafbefehl nicht nur
wegen fahrlässiger Körperverletzung, sondern auch wegen fahrlässiger Fahrerflucht verur-
teilt. Kann das sein?"
Für den Verkehr auf öffentlichen Strassen, wozu auch der Parkplatz eines Supermarktes
zählt, gilt das Strassenverkehrsgesetz (SVG).
Wer als Autofahrer bei einem Verkehrsunfall einen Menschen verletzt hat und die Flucht
ergreift, macht sich der Fahrerflucht strafbar (Art. 92 Abs. 2 SVG). Diese Gesetzesbestim-
mung äussert sich aber nicht konkret darüber, ob nur die vorsätzliche oder auch die fahrlässige Fahrerflucht strafbar ist. Grundsätzlich ist im SVG immer auch die fahrlässige Handlung strafbar, ausser der entsprechende Gesetzesartikel stellt ausdrücklich nur vorsätzliches Handeln unter Strafe.
Nun ist es aber für manche Menschen nicht logisch, dass man fahrlässig fliehen kann. Für
sie ist in den Worten "Flucht" und "ergreifen" ja bereits implizit enthalten, dass der Beschul-
digte etwas vom Unfall gemerkt hat. Wenn jemand die Flucht ergreift, entscheidet er sich
also bewusst, von einem Unfall davonzufahren. Bei einer fahrlässigen Tat ist dem Täter hin-
gegen nicht direkt bewusst, etwas Widerrechtliches zu tun. Deshalb soll nur die vorsätzliche
Fahrerflucht strafbar sein.
Das Bundesgericht ist dieser Argumentation in seinem Urteil vom 25. September 2020
(BGE 146 IV 358) aber nicht gefolgt. Die Bundesrichter haben vielmehr bestätigt, dass Fah-
rerflucht sehr wohl auch fahrlässig begangen werden kann. Begründet wurde dies einerseits mit dem oben erwähnten Grundsatz, wonach ohne ausdrückliche Bestimmung im SVG immer auch die fahrlässige Handlung strafbar ist. Andererseits will das Bundesgericht in praktischer Hinsicht verhindern, dass sich beschuldigte Personen mit der Behauptung einer Verurteilung entziehen, sie hätten vom Unfall überhaupt nichts gemerkt.
Somit machen sich nach heutiger Rechtspraxis auch diejenigen Autofahrer wegen Fahrer-
flucht strafbar, die aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit den Verkehrsunfall überhaupt nicht
bemerkt haben. Ihre Verurteilung wegen fahrlässiger Fahrerflucht im Strafbefehl ist somit in
rechtlicher Hinsicht korrekt.
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